Agenda Verwaltungsgerichtsbarkeit 2.0

Forderungsprogramm für das zweite Jahrzehnt der neuen Verwaltungsgerichtsbarkeit

Nach jahrzehntelangen Reformbestrebungen wurde mit der Umsetzung der Verwaltungsgerichtsbarkeit-Novelle 2012 im Jahre 2014 eine neue Gerichtsbarkeit zur Kontrolle der Verwaltung und zur Verbesserung des Rechtsschutzes geschaffen. Dadurch soll nun auch für den Vollzugsbereich der Verwaltung eine durchgängige Einhaltung europäischer Rechtsschutzstandards sichergestellt sein. Auch wenn die rechtspolitische Bedeutung dieser Reform nicht hoch genug geschätzt werden kann und die Verwaltungsgerichtsbarkeit – bei einer hohen Akzeptanz der Rechtssuchenden – ihrer Kontrollfunktion nachkommt, zeigt sich nach dem nun zehnjährigen Bestehen der Verwaltungsgerichte deutlich, dass eine Reihe von Verbesserungen erforderlich sind.

Ziel dieses Forderungsprogramms ist die Sicherstellung eines effizienten und effektiven Rechtsschutzes im öffentlichen Recht, der europäischen Ansprüchen gerecht wird.

Die im Dachverband zusammengefassten Interessenvertretungen der Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter des Bundes und der Länder fordern daher, mit Blick auf die bisher gewonnene Praxiserfahrung und Expertise, folgende Änderungen in den Bereichen der Gerichtsorganisation und des Verfahrensrechts:

A. Gerichtsorganisation

I. Richterauswahl und -ernennung

  • Transparente vorab bestimmte Auswahl- und Ernennungsverfahren durch ein
  • richterliches Gremium für alle Richter:innen einschließlich der Präsident:innen und
  • Vizepräsident:innen
  • Verbindliche Besetzungsvorschläge durch richterliche Gremien
  • erbindliche Besetzungsvorschläge auch für Gerichtspräsident:innen und deren
  • Stellvertretende durch richterliche Gremien
  • Rechtsschutz für unterlegene Kandidaten (Überprüfungsmöglichkeit des
  • Ernennungsverfahrens; Parteistellung im Ernennungsverfahren)
  • Schutz gegen Säumnis der Exekutive bei der Ernennung zB durch automatische
  • Ernennung des/der Erstgereihten nach Ablauf einer gewissen Frist nach
  • Erstattung des Vorschlags

II. Dienst- und Organisationsrecht

  • Weisungsfreistellung aller Präsidentinnen und Präsidenten der
  • Verwaltungsgerichte im Rahmen der monokratischen Justizverwaltung
  • Beseitigung von Berichtspflichten der Verwaltungsgerichte an die Verwaltung
  • Einheitliches Dienst- und Organisationsrechte für Verwaltungsrichter:innen des
  • Bundes und der Länder, Harmonisierung der Bezüge
  • Angemessener Schutz gegen Entlassungen etwa infolge negativer Beurteilung
  • Konzentration der Zuständigkeiten des Dienst- und Disziplinargerichts
  • Einheitliches angemessenes Pensionssystem, ohne finanzielle Benachteiligungen
  • Sicherstellung der materiellen Unabhängigkeit)

III. Fortbildung

  • Sicherstellung der Existenz und Unabhängigkeit der Richterakademie für Bund
  • und Länder durch Schaffung einer gesetzlichen Grundlage
  • Umfassende Einbindung und Mitbestimmung der Standesvertretungen zu Aus-
  • und Fortbildungsinhalten
  • Schaffung von nationalen Richteraustauschprogrammen
  • Verbindliche Einführungsphase zu Beginn der judiziellen Tätigkeit, sofern die
  • ernannte Person nicht schon zuvor richterlich tätig war
  • Ausweitung der Gerichtspraxis auf eine obligatorische Zuteilung zu einem
  • Verwaltungsgericht

IV. Ressourcen

  • Planstellen- und Budgethoheit für die Verwaltungsgerichte unter Beteiligung der
  • Richter:innen
  • Einbeziehung der Verwaltungsgerichte bei Einführung elektronischer Akten bei
  • den Behörden mit einheitlichen technisch kompatiblen Standards
  • Einheitliche und kompatible elektronische Ausstattung der Verwaltungsgerichte,
  • die den Anforderungen der Gerichtsbarkeit und dem Stand der Technik entspricht
  • V. Einbeziehung der Interessenvertretungen nach dem Vorbild des § 73a GOG

B. Verfahrensrecht

I. Allgemeines

  • Schaffung einer abschließend geregelten, eigenständigen
  • Verwaltungsprozessordnung
  • Vereinheitlichung des (auch: elektronischen) Verkehrs zwischen
  • Verwaltungsgerichten und Parteien
  • Einsicht in alle Register, die für verwaltungsgerichtliche Verfahren wesentlich sind
  • (zB.: Strafregister, Verwaltungsstrafregister, Erwachsenenvertretung)
  • Einheitliches Verwaltungsstrafregister für ganz Österreich

II. Einzelne Maßnahmen zur Erhöhung der Effizienz

  • Klare Abgrenzung der Zuständigkeiten
  • Schaffung eines verwaltungsgerichtlichen Vergleichs
  • Schaffung von Mediationsmöglichkeiten
  • Verpflichtung der Behörde bei Säumnis, den Bescheid nachzuholen und
  • Kostenpflicht der Behörde bei fortgesetzter Untätigkeit
  • Ermittlungsaufträge an Behörde (analog § 269 Abs. 2 BAO)
  • Nachholen von Verfahrensschritten durch die Behörde
  • Schaffung einer fakultativen Senatszuständigkeit im VwGVG (analog § 272 BAO)
  • Entfall des Aufwandersatzes bei Fristsetzungsverfahren
  • Kontradiktorische Einvernahme
  • Ausweitung der psychosozialen und juristischen Prozessbegleitung auf das
  • verwaltungs- und verwaltungsgerichtliche Verfahren
  • Alternative zu herkömmlichen Geldstrafen (gemeinnützige Arbeit, Fortbildung,
  • Schulung, Nachsicht unter Auflagen und Probezeiten)
  • Sicherstellung der Rechtshilfe und Zusammenarbeit mit ordentlichen Gerichten
  • und Staatsanwaltschaften
  • Neuregelung der Kostenregelung unter Einbeziehung des Gedankens der
  • Kostenwahrheit, des Verursacherprinzips und des Obsiegensprinzips
  • Reformierung und klare Regelung der Vergebührung im verwaltungsgerichtlichen
  • Verfahren
  • Klare Trennung zwischen Ankläger und Richter im Verwaltungsstrafverfahren
  • Möglichkeit der Zurückverweisung auch im Verwaltungsstrafverfahren